Gefährliche Erinnerungslücken und Realitätsdefizite des Kanzlers?
Ein Standpunkt von Wolfgang Effenberger.
Bundeskanzler Olaf Scholz hält es für an der Zeit, einen „zügigen“ Frieden in der Ukraine anzustreben.(1) Im Kanzleramt in Berlin sieht man die Zeit für intensivere diplomatische Bemühungen gekommen. In einem ZDF-Sommer-Interview sagte Scholz am 8. September 2024:
„Ich glaube, das ist jetzt der Moment, in dem man auch darüber diskutieren muss, wie wir aus dieser Kriegssituation doch zügiger zu einem Frieden kommen als das gegenwärtig den Eindruck macht“.(2)
Konkrete Vorschläge dazu machte der Sozialdemokrat allerdings nicht. Nun sieht Scholz plötzlich die Zeit für mehr Diplomatie gekommen (3), diesmal unter Beteiligung Russlands. Wie kam es zu dieser plötzlichen Gesinnungswende?
Die nunmehrige Idee von Scholz, die Ukraine und Russland an den Verhandlungstisch zu bringen, scheint durch die herben Niederlagen der Sozialdemokraten bei den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen und Thüringen beflügelt worden zu sein.
Auf diesen Vorschlag des deutschen Regierungschefs reagierte der außenpolitische Sprecher der FDP, Ulrich Lechte, zurückhaltend: für seine Partei könne es zwar „…sicherlich nie zu viel Diplomatie geben“. Er halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass Putin bereit sei, sich mit der Ukraine an einen Tisch zu setzen und seine Truppen abzuziehen, denn ein erneuter
„Scheinfrieden, wie er letztlich mit dem Minsk-II-Abkommen (4) vereinbart wurde, ist aus meiner Sicht vollkommen inakzeptabel“.(5)
Scheinfriede? Ja! Am 7. Dezember 2022 erregte Ex-Kanzlerin Merkel vor der Weltöffentlichkeit mit einem kurzen Satz aus dem ZEIT-Interview (Nr. 51/22)(6) Aufsehen, Empörung und Wut: „Das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht“.(7) Das war für Viele im Westen nur eine schlichte Bestätigung der Realität – in Moskau wird es immer noch als Verrat und Betrug an Russland ausgelegt.(8)
Noch im Jahr 2023 lehnte Olaf Scholz Friedensverhandlungen im Ukrainekrieg strikt ab.(9) In seiner Regierungserklärung unter dem Titel „Ein Jahr Zeitenwende“ sagte der Bundeskanzler im März 2023, es werde „…keinen Friedensschluss über die Köpfe der Ukrainer/innen hinweg geben“(10). Es spreche nichts dafür, dass Russlands Präsident Wladimir Putin überhaupt bereit sei, über einen „gerechten Frieden“ zu verhandeln. Hat es im 20. Jahrhundert jemals einen „gerechten Frieden“ gegeben?
Am 7. Februar 2022 absolvierte der deutsche Kanzler Olaf Scholz seinen Antrittsbesuch bei US-Präsident Joe Biden.(11) Beide signalisierten in Washington Einigkeit, wobei im Vordergrund ihres Treffens die aktuellen Spannungen zwischen Russland und der Ukraine standen. Im Hinblick auf die Gaspipeline Nord Stream 2 (12)sagte Biden, ein russischer Angriff würde ihr Ende bedeuten. Das verspreche er. Scholz hingegen machte keine konkreten Aussagen zur Pipeline. Er sagte lediglich, Deutschland und die USA würden in Bezug auf Sanktionen „komplett einvernehmlich agieren“.(13)…
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